Kürzestgeschichte des Monats Januar 2021
Ratschlag I (Hätten Sie’s gewusst?)
Es gibt nicht viel, was ich noch entschiedener verabscheue als unerbetene Ratschläge für unentdeckte Problemlagen. Der Ratgeber gibt es immer mehr, die auf immer weniger Ratsuchende treffen. Auch die Medien haben Beratung längst als ihre ureigene Aufgabe entdeckt; große Zeitungen füllen wertvolle Seiten mit saisonal wiederkehrenden Tipps der Nutzenklasse ‚Was gehört in die Reiseapotheke?‘ oder ‚Funktionsunterwäsche richtig waschen!‘
Irgendwann im Januar präsentierte mein Lokalblatt seinen Lesern eine Belehrung darüber, wie lange man seinen Bekannten nach Sylvester noch ein frohes Neues Jahr wünschen darf: „Am 15. Januar darf man das gerade noch, behaupten unabhängige Berater“, musste ich zur Kenntnis nehmen. Eine Frage, die ich mir selbst noch nie gestellt hatte. Ich sage „Frohes neues Jahr“ ab Neujahr, 00.00 Uhr, irgendwann sage ich es nicht mehr. Als Problem, das einen Rat erheischt, würde ich eher ansehen, dass man schon bald nicht mehr weiß, wem man bereits ein frohes neues Jahr gewünscht hat und wem noch nicht. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr und im nächsten Jahr hätte ich ein Problem dazu und würde auf den Kalender schauen müssen, ob wir noch vor oder bereits hinter dem Stichtag lägen. Ich war drauf und dran, mein Abo zu kündigen. Am 15. Januar darf man das nämlich und an jedem anderen Tag im Jahr auch noch.
Am nächsten Morgen indessen wurde ich in der Rubrik „Benehmen bei Tisch – keine reine Glückssache“ darüber belehrt, dass nur eine einzige Geflügelart zum Verzehr in die Hand genommen werden darf. Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht ist die Fingerhaltung nämlich nicht bei Brathähnchen erlaubt, sondern bei ihren noch kleineren Vettern, den Wachteln. Lediglich diese geflügelte Delikatesse, kross gebraten, darf man also „mit den Fingern“ essen. Ich freue mich immer, wenn ich etwas wirklich Neues lerne, und gab meiner Lokalzeitung nach diesem Bratschlag noch eine Chance. Vollends versöhnte sie mich eine Woche später, als sie guten Rat für ein Problem löste, das mir schon seit langem auf den Nägeln brannte: Wie verhalte ich mich, wenn ich falsch getankt habe? Also Diesel statt Benzin oder umgekehrt.
aus: A.H., Leichter gesagt. 101 neue Kürzestgeschichten. Münster: 2016