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Treuherzig

Kürzestgeschichte des Monats April 2021

(Ein Prä-Corona-Einkaufserlebnis)

 

Mal wieder an eine viel zu lange Schlange gestellt. Das monotone Rucken des Fließbands überträgt sich auf die Konversation zwischen Kundschaft und Kassiererin:
Guten Tag. Haben Sie Leergut gehabt? Bitte die Geheimzahl eingeben und bestätigen. Brauchen Sie den Bon?
Mich schaut sie an: Sammeln Sie Treuepunkte?
Ich bedauere: Nein, danke, ich kann nicht treu sein. Leider!
Das soll scherzhaft klingen und die Kassiererin geht darauf ein. Sie lacht spitzbübisch, spitzt die Lippen und beginnt lauthals zu singen:
Du kannst nicht treu sein …
Sie fuchtelt auffordernd mit den Armen. Nach kurzem Zögern stimmt die Schlange hinter mir schunkelnd ein:
Nein, nein, das kannst du nicht.
Wenn auch dein Mund mir wahre Liebe verspricht.
Der Chorus wirkt ansteckend. Ich lege meine rechte Hand auf die Herzgegend und schmachte der Kassiererin bedauernd zu:
In meinem Herzen hab ich für viele Platz.
Da ich nicht textsicher bin, wende ich mich mit Beginn der zweiten Strophe zum Gehen. Vielstimmig schallt es hinter mir her. Eines weiß ich: Für dieses Erlebnis echten Volksmusikschaffens verzichte ich auf alle Treuepunkte dieser Welt.

aus: A.H., Gelinde gesagt. 99 Kürzestgeschichten. Münster: 2012

 

 

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